Wo die Zeit gerinnt

Minutiöse Malerei von Kerwien im Kunst-Kontor von Friedericke Sehmsdorf

Potsdamer Neueste Nachrichten 03.12.2009

Innen- und Außenräume, ineinander geschachtelt und labyrinthisch, und immer wieder Treppen, Durch- und Ausblicke, Fenster und geöffnete Türen. Die Bilder des Malers Kerwien, gemalt in Öl auf Leinwand oder Hartfaser, beschreiben mit feinster Pinselspitze Räume und Raumgebilde, die allesamt die Eigenart haben, eine regelrechte Sogwirkung zu entfalten.

Als Betrachter geht es einem da so ein bisschen wie Alice im Wunderland. Angesichts der niemals wirklich rechten Winkel, der verzogenen Raumproportionen und geheimnisvollen Interieurgestaltung tastet sich der Blick Stück für Stück durch den Bildraum voran. Manchmal erscheint er wie eine leere Bühne, wo verwehte Blätter und weiße Masken an den Wänden die Neugier wecken. Hier und da öffnen sich die Wände gerade so weit, dass sich wie von unsichtbarer Hand leere Schubladen in den Raum hinein öffnen.

Kaum eine Menschenseele bevölkert „Kerwiens Welt“ – so der Titel der aktuellen Exposition in der Galerie Kunst-Kontor. In Kerwiens minutiös gemaltem Mikrokosmos erhalten Musikinstrumente einen prominenteren Part als die menschliche Spezies. Genauso wie die niemals fehlenden Zeitmesser, von der Sonnenuhr bis zum großen runden Ziffernblatt, gehören die musikalischen Botschafter unübersehbar zum Bildinventar. Für Kerwien, der heute Mitte vierzig ist und seit 20 Jahren intensiv malt, gehört die Musik fest zum Leben dazu. Sein Werdegang zum Maler ist ähnlich individuell wie seine Bilder.

Zur Malerei gekommen ist er durch das Malen mit den eigenen Kindern. Dabei stieß er zum eigenen Erstaunen auf die üppig sprudelnden Quellen seiner künstlerischen Kreativität. Der „dicke Doerner“, die maltechnische Bibel seit ungezählten Generationen, wurde bald zum Lehrmeister des sich handwerklich unermüdlich schulenden Autodidakten. Die Fertigkeiten, die Kerwien auf diese Weise sukzessive ausbildete, fließen ein in eine von Symbolen und Anspielungen gespeiste Bildsprache, in die er seine phantasievollen Botschaften hineinverwebt. Von den Entwicklungen der Malerei ringsumher offenbar weitestgehend unbefangen, erschafft sich Kerwien als Maler seine eigene Welt.

Vielleicht sprang gerade wegen dieser Losgelöstheit von den Moden und angesagten Richtungen in der aktuellen Kunst und der daraus resultierenden Authentizität der Funke von Kerwiens Bildern auf Friederike Sehmsdorf über. Mitten im Tohuwabohu der Berliner Kunstmessen spürte die Galeristin die eigenwilligen Botschaften des in Dessau lebenden Malers auf. Im Kunst-Kontor stößt er nun im Rahmen seiner allerersten Einzelausstellung unmittelbar auf derartig großen Zuspruch, dass zu einigen der bereits verkauften Gemälde bereits zweite Fassungen in Auftrag gegeben sind. Seine realistische Malweise, handwerkliche Präzision und poetische Bildsprache mit surrealem Einschlag ergeben ganz ohne Frage eine durchaus faszinierende Mischung. Dabei ist genau genommen nicht alles frei erfunden, sondern vieles, verknüpft mit eigenen Imaginationen, originell in einen sehr persönlichen Kontext gestellt. Die Faszination des Malers für die Neustrukturierung von Bildräumen à la Lyonel Feiniger ist nur ein Beispiel für Anleihen aus dem großen Fundus der abendländischen Kunstgeschichte. Dass er diese mit leisem Humor und Augenzwinkern immer wieder mit alltäglichen Attributen seiner eigenen Lebenswelt verquickt, zeigt sich in Bildern mit Motiven aus Dessau oder Stillleben mit Knoblauchzehen, Filmdosenschachtel und Armbanduhr.

Vielleicht sind es weniger Geschichten, die Kerwien in seinen Bildern erzählt. Oft stellt er kleine Szenen in einem Bild simultan dar. Aus dem Inventar dieser ambivalenten Innen- und Außenwelten, aus den wiederkehrenden Symbolen, Eigen- und Fremdzitaten ergeben sich auf dem Weg vom Bild zum Betrachter immer neue Entdeckungen, Sichten und Geschichten.

Erschienen am 03.12.2009 auf Seite 30

Von Almut Andreae